Warum Menschen immer weniger Zeitungen lesen, journalistische Berichterstattung geringer schätzen, sie weniger nachfragen und nicht dafür bereit sind zu zahlen? Nein, nicht wegen der „Gratiskultur“ im Internet, sondern auch – und möglicherweise: vor allem -, weil Journalisten langweilig und inkompetent berichten.
Weil wir in den vergangenen Tagen viel über das Ende der „Frankfurter Rundschau“ und der „Financial Times Deutschland“ sowie über Mitarbeiterabbau bei „Kurier“ und „Presse“ in Österreich debattiert haben, ist mir dieser Artikel auf der Website des „Gießener Anzeigers“ aufgefallen.
Ein Beispiel von vielen, unspektakulär – für mich aber gerade deshalb ein gutes Beispiel, wie Leser Tag für Tag ein bisschen mehr vergrämt werden.
Interessantes Thema – langweiliger Einstieg
„Interaktives Fernsehen“ ist ein interessantes Thema, weil in fast jedem Haushalt zumindest ein Fernseher steht, weil die Zahl der mit dem Internet verbundenen Smartphones und Tablets immer größer wird und Neues Menschen in der Regel fasziniert. Ganz zu schweigen vom Hype, der um die Themen SmartTV, social TV und Second Screen im Moment hochkocht.
Mag schon sein, dass ein schlecht ausgebildeter Praktikant oder ein schlecht bezahlter freier Mitarbeiter über den Vortrag des Mathematikers berichten musste – mit so wenig Sachkenntnis und Freude am Schreiben wäre kein Artikel besser gewesen als dieser.
Aus der Sicht des Lesers.
Formalismen statt interessanter Geschichte
GIESSEN/FRIEDBERG (red). Über „Interaktives Fernsehen auf dem Second Screen“ referierte Thomas Jäger an der Technischen Hochschule Mittelhessen (THM) in Friedberg. Der Mathematiker ist Partner beim Darmstädter IT-Dienstleister Accso – Accelerated Solutions. Er sprach im Rahmen der Reihe „Aktuelle Themen der Wirtschaftsinformatik“, die Prof. Matthias Willems (Fachbereich Mathematik, Naturwissenschaften und Datenverarbeitung) organisiert, heißt es in einer Pressemitteilung der THM.
Der ganze 1. Absatz ist der Beginn eines Protokolls einer Generalversammlung, aber nicht eines Textes, der Leser in seinen Bann ziehen soll. Formalismen, die im Verlauf des Textes natürlich unterzubringen sind. Am Beginn drücken sie das Interesse des Lesers gegen Null, bevor es noch richtig geweckt wurde. Da hat einer die Einladung zum Vortrag abgeschrieben – oder hat er ihn vielleicht gar nicht gehört?
Recherchieren hätte Fehler vermieden
Jäger erläuterte die technischen Standards, die eine Interaktion über das Internet erlauben. Einer weiten Verbreitung stehe im Wege, dass diese Standards nicht offen zugänglich seien, weil sie zum Beispiel vom Fernsehsender oder Gerätehersteller kontrolliert werden.
Das ist falsch! Es gibt einen Standard: HbbTV. Mit dem liefern nicht nur ARD und ZDF ihre Mediatheken und andere Zusatzinformationen über Internet auf das SmartTV-Gerät. Bei Second Screen-Anwendungen wie „Couchfunk“ wird mithilfe von Twitter-Hashtags kommuniziert. Die sind Quasi-Standard.
Dem Leser nicht die eigene Unwissenheit zumuten
Die Interaktion über ein zweites Gerät („Second Screen“) gewinne daher an Bedeutung, so Jäger. Zuschauer können etwa mit dem Tablet-PC abstimmen, an einem Spiel teilnehmen oder Produkte bestellen, die in einer Sendung zu sehen sind. In sozialen Netzwerken können sie über aktuelle Beiträge diskutieren.
Dieses theoretisches Herumgerede lässt den Leser verständnislos und verärgert zurück – hier hat ein Schreiber die Zeit des Lesers gestohlen. Wo bleiben Beispiele, die diese neue, für viele noch schwer begreifliche Erweiterung des linearen Fernsehens illustrieren, sie verständlich und nachvollziehbar machen? Wie zum Beispiel:
Für einen Journalisten reicht es nicht aus, Sätze eines Referenten zu reproduzieren. Er muss zuerst einmal verstanden haben, worüber er berichtet. Sich kundig machen über das Thema. Das ist das Allergrundsätzlichste: den Gegenstand der Berichterstattung – in diesem Fall den Vortrag – verstehen und und entscheiden könne, was richtig und für den Leser wichtig ist. Kritisch hinterfragen – dazu braucht es Wissen, das der Journalist über Recherche erwirbt. Diese Aussage ist so banal wie nicht selbstverständich in vielen Redaktionen dieses Landes.
„Keine Zeit, bezahlt mir niemand“ ist eine Rechtferigung, die Arbeitsleid ausdrückt. Dem Leser sind solche Argumente egal. Er will einen informativen, verständlichen, richtigen und spannend geschriebenen Artikel lesen. Keinen Text wie diesen.