Smartphone statt Übertragungswagen

„Livestreaming wird das nächste große Ding“, sagt Blogger, Fernsehjournalist und Early Adopter Richard Gutjahr beim gelungenen, ersten Live-Webinar der ‚torial-Academy. Und weiter: was heute die Selfie-Fotos sind, werden nicht morgen, aber in absehbarer Zeit die ganz persönliche Echtzeit-Videostreams sein. Ins Internet übertragen werden sie mithilfe von Services wie Periscope oder Meerkat, die noch so jung sind, dass deren technisches und soziales Potenzial überhaupt noch nicht ausgeschöpft ist.Oder durch Facebooks Live, mit dem zur Zeit aber nur Prominente Videos streamen dürfen.

Was Richard Gutjahr sagt, ist für mich schlüssig.

 

Ungebremstes Mitteilungsbedürfnis

(CC BY-SA 2.0)

Wer hätte noch vor wenigen Jahren geglaubt, dass auf Facebook täglich 351 Millionen Fotos hochgeladen werden? Dass jedes Smartphone mittlerweile eine Frontkamera hat, ist noch keine hinreichende Begründung für den Megatrend „Selfie posten“. Das Mitteilungsbedürfnis ist ungebremst – Clay Shirky hatte schon Recht, als er in seinem Buch „Cognitive Surplus“ 2011 formulierte, dass teilen neben passiv konsumieren und partizipieren das dritte kommunikative Grundbedürnis des Menschen ist.

Video ist beliebter als Foto: Auf YouTube werden in jeder Minute des Tages mittlerweile 300 Stunden Videomaterial hochgeladen. Diese Zahl hat sich innerhalb von nur eineinhalb Jahren verdreifacht. Die Kameras von Smartphones werden leistungsfähiger, Internetverbindungen besser, mobile Datenvolumina erschwinglicher – die Zutaten für Livestreaming sind angerichtet.

Die Leute werden sie nutzen.

Smartphonebesitzer als Livereporter

Livestreaming für (fast) jedermann wird zur Herausforderung für das traditionelle Fernsehen. Sendungen ansehen, wenn der Zuseher es will, und nicht, wenn die  TV-Programmplaner das vorsehen, hat den Stationen schon Publikum gekostet, vor allem junges. Die schnelle Berichterstattung bei aktuellen Ereignissen, die Liveschaltungen in Nachrichten- und Sondersendungen gelten vielen nun als Alleinstellungsmerkmal. Das kann aber gehörig unter die Räder kommen, wenn Augenzeugen mit ihren Smartphones genau diese aktuellen Bilder ins Internet streamen, bevor noch der Satellitenwagen der Fernsehstation überhaupt am Ort des Geschehens ist.

Denn zum Zeitpunkt des Geschehens ist es wohl ziemlich egal, wer die Bilder von brennenden Häusern oder demonstrierenden Massen veröffentlicht. Die journalistische Aufarbeitung und Einordnung, die hauptberufliche Berichterstatter gerne als Abgrenzung zu Laienpublizisten ins Treffen führen, die kann auch der Fernsehreporter im Tumult und in der Unübersichtlichkeit des Ereignisses nur in seltenen Fällen liefern. Unklare Verhältnisse, noch keine Ermittlungsergebnisse, Vermutungen, Gerüchte – zuerst geht es immer um die Bilder.

Waffengleichheit schaffen

(CC BY-SA 2.0)

Um wettbewerbsfähig zu bleiben, werden sich Journalisten derselben Mittel bedienen müssen: nicht auf die behäbige, qualitativ hochwertige Übertragungstechnik warten, wenn es darum geht, erste Bilder von einem aktuellen Ereignis zu liefern, sondern schnell und flexibel reagieren.

Auch diese Einschätzung von Richard Gutjahr ist nachvollziehbar und in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzen. Einen Aufsager am Schauplatz nicht vor der großen Kamera zu machen, sondern vor der Frontkamera seines eigenen Smartphones – das ist zumindest für viele Reporterinnen und Reporter noch das geringste Problem. Vor allem müssen in den Fernsehstationen die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, um den mobilen Reporter rasch auf Sendung zu bringen oder ihm einen gebrandeten Livestreaming-Kanal zur Verfügung zu stellen.

Technische Kompatibilität und journalistische Akzeptanz für Livestreaming müssen geschaffen werden. Das braucht Zeit und Experimentierfreudigkeit. Daher gilt es für Fernsehstationen (und im multimedialen Zeitalter nicht nur für sie) jetzt zu beginnen, sich mit Periscope &Co. anzufreunden. Ansätze gibt es bereits.

Noch ist Zeit, denn unter anderem geringe Video-Auflösung und schwache Smartphoneakkus sind noch gewisse Bremsklötze. Aber in ein paar Jahren, wettet Richard Gutjahr, wenn Mobilnetze und Geräte noch leistungsfähiger sind als heute, dann wird Livestreaming so richtig durchstarten, dann müssen die Redaktionen gerüstet sein.

Ich würde nicht dagegen wetten.

3 Gedanken zu “Smartphone statt Übertragungswagen

  1. In der Debatte gibt es viele Mißverständnisse:
    Es ist nicht so, dass Fernsehstationen heute nicht in der Lage wären, Periscope und Co zu nutzen. Sie tun es, wenn keine anderen Bilder vorliegen und die ersten Bilder die entscheidenden sind (zB. Fabrikexplosion in China).
    Journalismus besteht aber lange nicht nur aus besonderen Ereignissen, die sich mit dem Hinhalten einer Kamera so einfach abbilden lassen. Das sind nur wenige Events in einem Reporterleben. Zudem wird selbst bei verbesserten Leitungen dann dort das Netz instabil, weil tausende ihr Mobilfunkgerät nutzen.
    Schon heute haben alle TV Sender eigene Apps, mit denen der Reporter live auf Sendung gehen kann: bspw. die Tagesschau App, die einen Reportermodus hat.

    Tatsächlich haben aber die Live-Apps eine ganz andere Bedeutung, als dem klassischen TV Konkurrenz zu machen: Sie sind social. Ein Autor filmt und kommuniziert mit dem Publikum. Authentisch. Und das ist nicht ins TV-Programm zu übertragen. Das ist etwas Neues. Darin liegt die Chance. Auch für Journalisten.

    Doch dort kommt ein neues Problem ins Spiel: Die Bildrechte. Wer live streamt, kann nicht vorher um Erlaubnis fragen. Daher bleibt das Tool Live-Video-Streaming auf bestimmte öffentliche Situationen beschränkt.
    Doch was helfen Live-Bilder, wenn die Einordnung fehlt? Von wem geht die Handlung aus? Was ist passiert? Wer ist verantwortlich? Was ist der Hintergrund?
    Das sind Fragen, die Journalisten von Nutzern unterscheiden, die nur das Bild streamen. Und zudem: Bilder zeigen nicht immer die volle Wahrheit. Ohne oder mit falscher Einordnung können sie sogar lügen.

  2. Ich würde auch nicht dagegen wetten.

    Aber auf die technizistische Schlagseite solcher Debatten hinweisen: Die reine Machbarkeit erzeugt noch keinen journalistischen Wert, sondern verändert erst einmal – drastisch – die Produktionsbedingungen.

    Daher glaube ich, dass Ihre folgende Einschätzung etwas zu kurz greift:

    „Denn zum Zeitpunkt des Geschehens ist es wohl ziemlich egal, wer die Bilder von brennenden Häusern oder demonstrierenden Massen veröffentlicht.“

    Die Echtzeit-Bilderjagd hat an Einsatzorten und Krisenherden mittlerweiel zu sehr unübersichtlichen Szenen geführt. Kein neues Phänomen, aber durch den digitalen Medienwandle wird dies drastisch gesteigert (übersteigert).

    Zu den entscheidenden Fragen gehört daher, wie unter solchen Bedingungen eine Distanz der Prüfung und Reflexion erreicht wird, um das Publikum gut zu informieren. Wem können die Nutzer vertrauen?

    Hier wird möglicherweise künftig die Grenz-Linie zwischen „Profis“ und „Laien“ verlaufen. Wenn auch eine recht durchlässige.

    So gern die großen Zeitenwenden und Mega-Trends beschworen werden – es werden zwar die Karten neu gemischt werden, das Spiel dürfte aber das gleiche bleiben. Technik ist kein Selbstläufer.

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