Kontrollverlust und unberechenbar – Skandale 2.0

Cover Ein Radiointerview, das kaum beachtet wird – ein Student hört es, empört sich. Er twittert seine Kritik, schreibt Mails an Redaktionen. Blogger greifen das Thema auf, so werden Journalisten wieder auf den Fall aufmerksam. Der, der das Interview gegeben hat, fühlt sich missverstanden und tritt zurück. Deutschland braucht einen neuen Bundespräsidenten. Horst Köhler hat sich aus dem Amt verabschiedet, wir schreiben das Jahr 2010.

Die Redaktionen haben ihr Monopol verloren zu entscheiden, was in der massenmedialen Kommunikation wichtig ist. Es liegt nicht mehr allein in der Hand der traditionellen Medienmacher den Grundstein für Skandale zu legen – der Student, der sich über eine Interviewpassage des Bundespräsidenten empört, kann es; der Buspassagier, der einen schimpfenden Mitreisenden in einem Hongkonger Nachtbus filmt und das Video auf YouTube veröffentlicht, kann es.

In der neuen Kommunikationsstruktur erhalten Skandale eine neue Dynamik. Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, und Hanne Detel,  wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft der Universität Tübingen, haben ein Buch darüber geschrieben: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter.

Von Guttenberg bis Abu Ghraib

Die beiden legen ein lesenswertes Buch vor, das nicht mehr überzeugen muss. Seit Karl Theodor zu Guttenberg über die Plagiate in seiner Dissertation und der demokratische US-Kongressabgeordnete Anthony Weiner über ein fehlgeleitetes Tweet gestürzt sind, seit Wikileaks und den Fotos von Abu Ghraib ist die neue Dynamik der Skandale „im Zeitalter der digitalen Überall-Medien und der wechselseitigen Dauerbeobachtung […] allgegenwärtig. Jeder kann ihn auslösen, jeden kann er treffen.

Spannend in dem Buch von Pörksen und Detel sind die Beschreibungen der Ursachen, was die Faktoren ausmacht, die den Skandal ermöglichen, und die Schlussfolgerungen:

“ Wenn ein Thema – es muss nicht relevant sein – aber interessant und sofort verständlich, unmittelbar einsichtig ist und eine starke emotionale Reaktion hervorruft, dann kann es dazu kommen, dass sich eine Wutgemeinde, eine Empörungsgemeinde auf dieses Thema stürzt.“

Auf der Suche nach den Faktoren, die im digitalen Zeitalter Skandale auslösen können, analysieren die beiden Autoren bekannte und weniger bekannte Fälle. Allesamt haben sie penibel recherchiert und mit Quellenmaterial dokumentiert. Das macht die Schlussfolgerungen nachvollziehbar.

Und weil jedes Buchprojekt einen Redaktionsschluss hat, Skandale aber auch danach ausbrechen, haben die Autoren eine Facebookseite gestartet, auf der Relevantes zum Buch weitergeschrieben werden kann. Das ist nur konsequent bei einem Thema, bei dem die neue, digitale Kommunikationsstruktur unserer Gesellschaft eine solch dominierende Rolle spielt.

Die neue Empörungsdynamik

Diese neue Empörungsdynamik, „die sich von dem klassischen, dem massenmedialen Skandal unterscheidet„, bestärkt die Thesen des Psychologen und Unternehmensberaters Peter Kruse.  In einer Enquete des deutschen Bundestags am 5. Juli 2010 formulierte er zehn Thesen, die er in einem Kurzreferat prägnant zusammenfasste. Kruse sprach dabei auch von den geänderten gesellschaftlichen Machtverhältnisse:

„Mit der Möglichkeit des spontanen Entstehens von Massenbewegungen durch Resonanzbildung in den sozialen Netzwerken verlagert sich die Macht grundlegend von den Anbietern auf die Nachfrager.“

Im Fall der neuen Dynamik der Skandale geht die Macht von den Journalisten und Politikern zu den TPFKATA (the people formerly known as the audience (c) Jay Rosen – die Menschen, die man früher Publikum nannte).

Die Kommunikation in den sozialen Netzwerken sei unberechenbar, sagt Kruse und rät nicht nur jenen, die der massenkommunikativen Macht verlustig gegangen sind, ihr Ohr am Netz zu haben, um dessen unberechenbaren Aufschaukelungen rechtzeitig erkennen zu können. Das deckt sich auch weitgehend mit dem Ratschlag der beiden Autoren des „entfesselten Skandals“:

„Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen! Aber rechne damit, dass das nichts nutzt!“

Die Details zum Buch:

PÖRKSEN, Bernhard und DETEL, Hanne: Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter

Herbert von  Halem Verlag, Mai 2012, 248 Seiten

ISBN-10: 3869620587

ISBN-13: 978-3869620589

Preis: 19,80 Euro

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