“Das Fernsehen hat keine Zukunft”

“Das Fernsehen hat keine Zukunft” – zumindest das Fernsehen, wie wir es kennen. Judith Rakers, Fernsehjournalistin und -moderatorin, provoziert in einem Essay, zu dem sie auf “FOCUS Online” interviewt wurde. Fernsehen werde sich ins Internet verlagern, sagt sie, genauer gesagt in die sozialen Netzwerke:

“Wir werden abends heimkommen, unser Internet einschalten, sofort auf unser soziales Netzwerk kommen – vermutlich wird das Facebook sein. Dort werden wir von unserer virtuellen Freundesgruppe begrüßt, gratulieren schnell noch jemandem zum Geburtstag, haben ein Video als Sprachnachricht bekommen und sehen sofort, was unsere Freunde gerade machen: Wie sie kommunizieren, was sie gucken, ob sie sich zu einem Internet-Pokerturnier treffen, eine Tagesschau-Meldung kommentiert haben oder eine Sendung wie „Wetten, dass..?“ schauen. Die sozialen Gruppen werden eigene Inhalte und Sendungen anbieten und sie werden die Sendungen und Inhalte anderer Anbieter, also auch die der heutigen Sender, distribuieren.”

Judith Rakers prophezeit also das Ende des linearen Fernsehens, bei dem der Zuseher das Programm konsumieren muss, wie es ihm von den Fernsehanstalten vorgesetzt wird.

Nicht ganz so endgültig formulierte Gerfried Stocker, Geschäftsführer und künstlerischer Leiter der Ars Eletronica in Linz, beim Branchen-Kongress für Kabel-TV und Breitbandbetreiber, Rundfunkveranstalter und Dienstleister, bei den Cable-Days in Salzburg Anfang November 2011, seine Meinung vom Zustand des Fernsehens: Fernsehen sei eigentlich schon tot – oder aber zumindest ins Altersheim übersiedelt.

Keine Rede von tot: “Fernsehen ist noch das Leitmedium”

Die Fernsehanstalten wollen naturgemäß vom Abgesang auf das Fernsehen nichts wissen. ARD und ZDF, die beiden öffentlich-rechtlichen Rundfunkunternehmen in Deutschland verweisen auf eine Studie, dass 2010 jeder Deutsche durchschnittlich 220 Minuten pro Tag ferngesehen … und nur 83 Minuten im Internet gesurft hat: “Trotz rasanter Entwicklung des Internets bleibt das Fernsehen mit Abstand das Leitmedium in Deutschland.”

Das lineare Fernsehen bleibt Leitmedium – aber für wen? Für die Älteren ja, für die Jüngeren nein.

Alte halten dem linearen TV die Treue

Die Trennlinie zwischen denen, die dem klassischen Fernsehen unverbrüchlich die Treue halten, und jenen, die bewegte Bilder über andere Kanäle konsumieren, verläuft maßgeblich zwischen den Altersgruppen – hier alt, dort jung.

Eine Studie des Marktforschungsinstituts IFES und GfK Austria zur Frage, wie sich die Österreicherinnen und Österreicher informieren, hat diese (Binsen-)Weisheit einmal mehr bestätigt:

  • 68 % der befragten über-60-Jährigen gaben an, sie deckten ihren täglichen Informationsbedarf mit den Sendungen des ORF-Fernsehen.
  • Bei den unter-30-Jährigen tun dies nur noch 27 %. (Bei den Tageszeitungen ist das Verhältnis übrigens ähnlich.

“Gänzlich anders hingegen sieht es bei der Internet-Nutzung aus: 40 Prozent der Jungen nutzen das Internet täglich als Quelle für politische Information, bei den Senioren sind es hingegen nur 14 Prozent,” zitiert die Tageszeitung “Der Standard” aus der Studie.

Die Jungen schauen kaum noch fern

Die Ergebnisse dieser Studie decken sich mit meinen Auswertungen der Teletest-Daten für den Monat September für die Zeit zwischen 19.30 und 19.50 Uhr. Dieser Zeitpunkt ist absichtlich gewählt: Um 19.30 Uhr beginnt jeden Tag im 2. Kanal des ORF die meist gesehene nationale Nachrichtensendung des Landes, die “Zeit im Bild“.

Im September 2011 haben um  19.30 Uhr täglich durchschnittlich 41,3 Prozent der österreichischen Bevölkerung ferngesehen. Im Teletest sind 7.106.000 Österreicherinnen und Österreicher erfasst. Das sind alle, die älter als 12 Jahre sind. Von denen schauten an jedem Septembertag durchschnittlich drei Millionen um 19.30 Uhr fern. Alle Programme zusammengerechnet. (Auf das Diagramm klicken, damit es größer angezeigt wird.) Das ist eine beachtliche Zahl.

Umgekehrt haben 58,7 Prozent des potenziellen Publikums um 19.30 nicht ferngesehen, sondern sich einer anderen Beschäftigung gewidmet.

 

Von jenen Österreicherinnen und Österreichern, die zwischen 20 und 29 jahre alt sind, hingegen saßen an jedem Septembertag um 19.30 Uhr durchschnittlich nur 16,9 Prozent vor dem Fernsehgerät. 83,1 Prozent dieser Altersgruppe ging anderen Beschäftigungen nach. (Auf das Diagramm klicken, damit es größer angezeigt wird.)

Hochgerechnet auf die gesamte Bevölkerung, hätten sämtliche Fernsehprogramme zusammengenommen um diese Uhrzeit nur noch 1,2 Millionen Zuseher gehabt.

 

Beinahe deckungsgleich war das Fernsehverhalten der 12 bis 19-Jährigen im spetember 2011: 16,7 Prozent, also nicht einmal zwei von zehn, beschäftigten sich mit Fernsehen. 83,3 Prozent taten etwas anderes.  (Auf das Diagramm klicken, damit es größer angezeigt wird.)

Fazit: Acht von zehn Österreicherinnen und Österreicher unter 30 Jahren nutzten zu dieser Zeit das Fernsehen nicht mehr.

Die bange Frage der klassischen TV-Poduzenten muss sein: Was werden die Jungen
tun, wenn sie ins Alter derer kommen, die heute noch in großer Anzahl klassisches Fernsehen schauen?

Ich vermute, sie werden NICHT gewillt sein, sich wieder dem Sendungsdiktat der Produzenten von linearem TV zu unterwerfen. Die Konsequenz ist eindeutig und folgerichtig – siehe Radkers und Stöcker am Beginn dieses Blogposts.

MobileTV gegen lineares Fernsehen

Und zur Erkenntnis, dass die Jungen dem traditionellen Fernsehen zunehmend den Rücken kehren, kommt noch die Verlockung der neuen technischen Möglichkeiten: In einer Studie der Beratungsfirma goetzpartners  unter 14- bis 64-Jährigen in Großbritannien, Frankreich und Deutschland erhoben die Verfasser, dass bis zum Jahr 2015 16,5 Millionen Menschen in Deutschland Fernseh-Inhalte auf ihren Smartphones und Tablett-Computern nutzen werden. Auch sie werden den linearen Programmen der Fernsehunternehmen als Publikum verloren gehen.

“MobileTV wird die TV-Nutzung in den nächsten Jahren signifikant verändern und ergänzen”, stellt Dr. Alexander Henschel, Geschäftsführer von goetzpartners und verantwortlich für die Studie, fest. “Der Konsument möchte in Zukunft selbst entscheiden, wo und wann er ein bestimmtes Bewegtbildangebot nutzt”, ergänzt Marcus Worbs-Remann, Senior Manager bei goetzpartners.

Was nichts anderes heißt, als das dem traditionellen, linearen Fernsehen zusätzliche Konkurrenz erwächst – und das nicht nur im jungen Publikumssegment.

Was heißt das für uns Fernsehjournalisten?

Auf alle Fälle heißt es: weiter sparen – noch weniger Personal und Geld in den Redaktionen, noch mehr Arbeit für jeden Verbleibenden, weniger Zeit zum Recherchieren, für die Weiterbildung, für die Reflexion des eigenen Tuns.

Auf alle Fälle heißt es: die Fernsehournalisten müssen umdenken und die Fernsehunternehmer müssen Möglichkeiten schaffen, Bewegtbild-Inhalte auf anderen Wegen zum Publikum zu bringen als über traditionellen Kanäle.

Das lineare Fernsehen mag in existenzielle Bedrängnis geraten. Die Fähigkeiten der TV-Journalisten, Geschichten verständlich und attraktiv zu erzählen, diese Fähigkeiten werden auch in den non-linearen sozialen Netzwerken gefragt sein. Erweitert um zusätzliche Kompetenzen, die von den social Media verlangt werden, vor allem im geänderten Umgang mit den Nutzern. Das ist eine Zukunftschance für alle jene Fernsehjournalisten, die keine Berührungsängste mit den Herausforderungen der neuen Mediengesellschaft haben.

Das Journalismus-Labor des Kuratoriums für Journalistenausbildung hat im Novwember 2011 einen Eindruck davon vermittelt – hier ist der Twitter-Feed dieses aufschlussreichen Tags (mehr davon später in einem separaten Blogpost).

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